„Wissen, wo’s herkommt“ – nichts wird diesem Trend besser gerecht als Projekte, in denen Verbraucher:innen ihr Gemüse selbst ernten können. Auf dem Gemüsehof im Moosfeld auf der Bodenseehalbinsel Höri werden 0,8 von insgesamt 20 Hektar jährlich für die Selbsternte bestellt. Wo Verbraucher:innen selbst zu Gießkanne, Hacke und Erntemesser greifen, bleibt für die Betriebsleiter:innen dennoch einiges zu tun. Was, das erfahrt ihr hier. Ganz unten findet ihr noch eine knackige Checkliste.
Vorbereitung eines Selbsternte-Feldes
Der Gemüsehof im Moosfeld arbeitet pfluglos und nach Demeter-Richtlinien – entsprechend wird die Fläche erst mit der Spatenmaschine und anschließend mit der Fräse bearbeitet; Kompost und die Demeter-typischen Präparate aus Hornmist und Hornkiesel werden eingearbeitet. Dann sät und pflanzt der Betriebsleiter reihenweise verschiedene Gemüsekulturen. Quer zu den Reihen werden dann Parzellen mit 1,85 m Breite abgemessen und mit Stöcken markiert – jeder Kunde erhält so ein Stück Gemüseacker, auf dem die ganze hier wachsende Vielfalt abgebildet ist – hier sind es rund 20 verschiedene Kulturen, von Salaten über Rote Bete, Möhren und Artischocken bis zu Kartoffeln und Fenchel.
Zwei Reihen bleiben unbepflanzt zur freien Gestaltung. Von Mai bis November liegt das Selbsternte-Feld ganz in der Hand der Kunden. Für die Nutzung einer bepflanzten Parzelle von 1,85 m × 60 m zahlt eine Partei einen Beitrag von 150 Euro. In einem kleinen Schuppen steht etwas Werkzeug zur Verfügung, Wasserkanister stehen an beiden Rändern der Fläche – das genügt im Wesentlichen, dass Neueinsteiger und Kunden, die seit vielen Jahren dabei sind, gleichermaßen Erfahrungen und Gemüse sammeln können.
Am Ende der Saison wird die Fläche umgebrochen; vorab gibt es einen Aufruf, das eigene Gemüse zu ernten, und kurz vor Schluss am 11. November ist es ausdrücklich erlaubt, zu „räubern“, also über alle Parzellen zu schlendern und einzusammeln, was man brauchen kann.
„Im Lauf der Jahre hat sich gezeigt: Das Projekt läuft auch ohne viel Tamtam. Die Menschen kommen, kümmern sich um ihre Parzellen, fragen sich bei Problemen gegenseitig oder schauen von Nachbarparzellen ab, welche Keime Unkraut und welche Gemüse sein könnten. Mein Aufwand ist im Lauf der Jahre sehr gering geworden.“
Thomas Kessler LandwirtErfahrungen eines Landwirts mit dem System Selbsternte
Der Gemüsehof im Moosfeld war einer der ersten Betriebe in Deutschland, auf denen sich 2001 ein Selbsterntefeld etablierte. Christoph Stocker, der aus dem 5 km entfernten Radolfzell stammt, hatte die Idee während seines Studiums an der Universität Kassel kennengelernt. Er berichtet: „Das erste Selbsterntefeld nach diesem Prinzip ist in den 80er-Jahren im studentischen Milieu in Wien entstanden.“ Dieses Vorbild diente dann auch als Grundlage für das Selbsternte-Projekt auf der Höri. Internetseite, Werbeflyer und Anbauplan konnte der Landschaftsplaner fast 1:1 übernehmen.
Mit Thomas Kessler, dem damaligen Betriebsleiter des Gemüsehofs im Moosfeld, hatte Christoph Stocker den optimalen Kooperationspartner gefunden. Der Landschaftsplaner hat anfangs viel ehrenamtliches Engagement in die Selbsternte gesteckt. Mit Flyern in der Hand hat er an den Marktständen des Gemüsehofs Kund:innen angesprochen. Heute sind auch ohne offensive Werbung alle Parzellen belegt. Christoph Stocker bleibt Ansprechpartner für die Selbsternter, wickelt die Verträge ab, trägt Sorge, dass jeder Neuling eine Einweisung erhält, und steht für Fragen zur Verfügung.
So, wie es sich seit nunmehr 20 Jahren gestaltet, passt das Selbsterntefeld perfekt auf den Betrieb. Noch bis 2011 gab es hier Pferde statt Traktoren. Auf insgesamt sechs Wochenmärkten sind überwiegend eigene Produkte im Sortiment, ergänzt durch zugekauftes Obst und Gemüse, so regional wie möglich. Die Kund:innen auf der Selbsterntefläche kennen und schätzen den gesamten Gemüsebetrieb und kaufen, wenn die Selbsternte mal nicht ausreicht, auf den Wochenmarktständen ein.
Die Eingliederung der Selbsterntefläche in den Gemüsebaubetrieb hat organisatorische Vorteile. Fürs Nachpflanzen in abgeernteten Reihen können wöchentlich neue Setzlinge bestellt werden, die Thomas Kessler nach Bedarf bereitstellt. Auch Saatgut vieler gängiger Gemüsesorten stehen für die Selbsternter in Gläsern mit Vertrauenskasse zur Selbstbedienung bereit.
Es ist auch Stress
Thomas Kessler gibt zu: „Wenn ich das Selbsterntefeld im Frühjahr bestelle, gibt es immer auch eine Phase, in der ich genervt bin. Im Vergleich zu meinen sonstigen Flächen muss ich unzählige Male mit Handsä- und Pflanzmaschine fahren, bis dann auch die letzte Reihe Kohlrabi zu ihrer Zeit im Boden ist. Aber es ist jedes Jahr dasselbe: Wenn alles steht, freue ich mich wieder sehr an diesem Projekt.“
Der Senior-Betriebsleiter erlebt die vielfältige Gemüsefläche auch als großes Lernfeld. Da jeder und jede Parzelleninhaber:in ein wenig anders vorgeht, ließen sich mitunter große Unterschiede beobachten. Wer beim Nachsäen die Samen nur oberflächlich in den Boden bringt, hat meist keinen Erfolg. Besonders in den trockenen Sommermonaten bewährt es sich, die Samen in Rinnen zu legen, wo sich die Feuchtigkeit besser hält.
Anfang 2021 hat Thomas Kessler den Betrieb an seinen Nachfolger Jakob Mannherz abgegeben – der 36-jährige Quereinsteiger war nach Maschinenbaustudium und Tätigkeit in der Industrie auf der Suche nach einer beruflichen Alternative und kennt den Gemüsehof im Moosfeld bereits seit Kindertagen. Er hat einen betriebswirtschaftlichen Blick auf das Selbsterntefeld: „Der Deckungsbeitrag unterscheidet sich nicht bahnbrechend von einem Möhrenfeld gleicher Größe, liegt eher etwas darunter. Doch was ich zunehmend als großen Vorteil erkenne: Die Einnahmen sind zu Beginn der Saison zuverlässig da, genau zum richtigen Zeitpunkt, wenn wir bedingt durch den Einkauf von Saat- und Pflanzgut viele Ausgaben haben. Und sie sind stabil, vollkommen unabhängig von Witterug und Marktentwicklung“.
Es rechnet sich auch
Eine Kundin hat ihre Ernte während einer Saison vollständig erfasst – für ihren Saison-Beitrag von 150 Euro hat sie insgesamt Gemüse im Wert von rund 225 Euro geerntet. Die meisten Kund:innen nehmen jedoch nicht an Selbsternteprojekten teil, um Geld zu sparen. Im Vordergrund steht der Wunsch, einen Ausgleich zum Büroalltag zu finden und einen näheren Bezug zu Lebensmitteln aufzubauen. „Wir haben gar nicht gewusst, wie viele Handgriffe nötig sind, bis man einen Bund Möhren ernten kann“, staunen manche. Wenn Kund:innen Erfahrungen sammeln, profitieren auch die Landwirt:innen. Denn jeder, der eine Saison lang eine Selbsternteparzelle gepflegt hat, fragt sich nicht mehr, warum Lebensmittel so teuer sind – eher, ob sie nicht viel mehr kosten müssten.
Nicht jedes erfolgreich geführte Selbsterntefeld fußt auf einem langjährig gewachsenen Miteinander von Betriebsleitung und ehrenamtlichem Engagement. Die „Ackerhelden“ mit Stammsitz in Essen haben eine Art Franchise-System entwickelt, das Selbsternte für ein größeres Spektrum von Betrieben praktikabel macht: Der kooperierende Betriebsleiter übernimmt lediglich die Grundbodenbearbeitung im Frühjahr und verpachtet danach seine Fläche an die Ackerhelden. Diese rücken mit Team, Saat- und Pflanzgut an und übernehmen die Bepflanzung sowie die vollständige Kommunikation und organisatorische Abwicklung mit den Kund:innen. Kundenfragen werden im Online-Forum beantwortet. Der beteiligte Landwirt hat die Freiheit, wie Thomas Kessler die Fläche interessiert zu beobachten und das Gespräch mit den Kund:innen zu suchen – er trägt aber abgesehen von der Bodenbearbeitung vor und nach der Erntesaison keine Verantwortung für das Projekt.
www.ackerhelden.de gibt einen Überblick über wichtige Themen bei der Selbsternte.
Gemüse ernten lassen: Checkliste
- Voraussetzungen: für Gemüse geeigneter Boden, Fahrradnähe zu umliegenden Dörfern/Städten, möglichst Zugang zu sanitären Anlagen, Betriebsleitung und/oder Personal, die Freude am Umgang mit Menschen haben.
- Investitionen: Gartenwerkzeug, Wassertanks, Werbematerial wie Flyer, soziale Medien etc.
- Arbeiten im Jahreslauf: Bodenvorbereitung, Erstbepflanzung, Parzellenübergabe, Beratung und Wassertanks nachfüllen während der Saison nach Bedarf, Nachbereitung der Fläche am Saisonende, Verwaltung, Marketing. Insgesamt 100 bis 200 Stunden im Jahr, je nach Intensität.
- Jährliche Kosten ohne Arbeitszeit: Maschinenstunden, Jungpflanzen, Wasser, Marketing, gegebenenfalls Mitgliedsbeitrag bei Ackerhelden oder anderem Zusammenschluss.
- Einnahmen: Pacht wird zu Beginn der Saison erhoben; Preise liegen je nach Konzept und Standort zwischen 150 und 250 Euro pro Saison für eine Parzelle von etwa 50 bis 60 Quadratmetern.
- Ideeller Wert: Kunden erleben Landwirtschaft hautnah; das Verständnis zwischen Erzeuger und Verbraucher wächst.
- Internet: www.mikrolandwirtschaft.org mit zahlreichen Projektlinks bundesweit sowie hilfreichen Materialien, Pressemitteilungen, Präsentationen, Netzwerk- Treffen, etc.
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